Am 30. Juli 1921 heiratete die gelernte Schneiderin Berta Pahl in Lörrach ihren drei Jahre jüngeren Verlobten, Friedrich Heinzelmann-Emden aus Singen am Hohentwiel. Der Grenzaufseher Heinzelmann war im Alter von 22 Jahren als junger Bootsmatrose des Marinekreuzers SMS-Emden im Indischen Ozean in Kriegsgefangenschaft geraten und gehörte zu den glücklichen Heimkehrern, die auf kaiserlichen Erlass den Schiffsnamen „Emden“ als vererbbaren Namenzusatz dem Familiennamen hinzufügten durften.
Berta Pahl wurde am 28. Dezember 1889 in Lörrach geboren und am 2. Februar 1890 hier evangelisch getauft. Ihre Eltern, Wilhelm Pahl (auch Paal), geboren am 16. August 1852 in Lörrach-Stetten und seine Frau Luise (geboren Lauer am 4. Mai 1854) kamen einst aus der Bodenseeregion nach Lörrach. Sie erwarben das Grundstück in der Kreuzstraße 18, auf dem sie das Haus errichteten, das sich bis nach 2010 noch im Besitz der Familie Heinzelmann-Emden befand. Nach der Hochzeit mit dem Zollsekretär Friedrich Heinzelmann-Emden lebten die beiden in der Kreuzstraße 18. Die Söhne, Erich Heinzelmann-Emden wurden 1922 und Friedrich 1924 geboren.
Über Bertas Erkrankung, die über Jahre andauert, ist nur wenig bekannt. Der Geburt von Fritzeli (Friedrich) folgte offenbar eine Depression, die zu einer psychiatrischen und später stationären Behandlung führte. Als Stationen wurden die Nervenklinik Emmendingen, das Landeskrankenhaus Reichenau und die badische Pflegeanstalt Rastatt dokumentiert. Im März 1939 lässt sich Friedrich Heinzelmann von seiner chronisch kranken Frau scheiden.
In der Akte 463 1984/1, Nr. 6, Pflegeanstalt Rastatt, ist noch eine Karteikarte von Frau Pahl zu finden. Die staatliche Heil- und Pflegeanstalt Rastatt übernahm ab 1934 die Rolle einer badischen "Verwahranstalt", in die Patienten aus den verschiedenen badischen Einrichtungen gebracht wurden, die nicht mehr therapiert werden sollten oder konnten. Zur Minimierung der Kosten war die Anstalt extrem unterversorgt. Im September 1939 wurde die Anstalt in Rastatt komplett geräumt und existierte fortan als "Anstalt in der Anstalt" im württembergischen Zwiefalten weiter.
Zum Zeitpunkt ihrer Deportation am 31. Mai 1940 wurde die 50-jährige Berta Pahl in einem der berüchtigten grauen Busse von Zwiefalten in das ehemalige Behindertenheim des Samariterstifts Stuttgart in Grafeneck bei Reutlingen gebracht. Wie alle anderen Menschen in Grafeneck auch, wurde Frau Pahl direkt nach der Ankunft in der Tötungsanstalt mit Kohlenmonoxidgas ermordet. Ihr Todestag war der 31. Mai 1940. Zur Vertuschung gab die Anstaltsleitung eine Lungenentzündung als Todesursache an und verlegte den Todestag auf den 23. Juni 1940.
Das Behindertenheim des Samariterstifts wurde 1939 von den Nationalsozialisten im Rahmen des Euthanasieprogramms (Aktion T 4) enteignet und zur ersten Tötungsanstalt für behinderte Menschen im Deutschen Reich, mit Gaskammer und Krematorium, umgebaut. Berta Pahl ist eine von 10.654 Menschen mit Behinderung aus Bayern, Baden und Württemberg, aber auch aus Hessen und dem heutigen Nordrhein-Westfalen, die in Grafeneck ermordet werden. Aus Lörrach sind nach heutigem Wissensstand 81 Euthanasieopfer zu beklagen, wie die Historiker Kilian Fehr und Robert Neisen sorgfältig recherchiert und dokumentiert haben.
Der Stolpersteine für Berta Pahl wurde verlegt auf Initiative ihrer Nichte, Irene Heinzelmann, sowie auf Wunsch der weiteren Kinder und Enkel von Friedrich und Erich Heinzelmann, mit ausdrücklichen Zustimmung der gesamten Familie. Etwa zehn Nichten, Neffen, Enkel und Urenkel von Berta Pahl nahmen am 19. Oktober an der Stolperstein-Verlegung in der Kreuzstraße 18 teil.
Autor: Dr. Markus Hofmann
Aktion T 4
Am 14. Juli 1933 verabschiedeten die Nationalsozialisten das Gesetz zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das am 1. Januar 1934 in Kraft trat. Es fußte auf der sozialdarwinistischen Rassentheorie der Nationalsozialisten, wonach nur „erbgesunde“ Völker im Ringen der Rassen um die Weltherrschaft bestehen würden. Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen, Epileptiker und Alkoholiker galten danach als erbkranke „Ballastexistenzen“, die durch das Gesetz an der Fortpflanzung gehindert werden sollten. In Baden wurden weit über 10.000 Menschen oftmals gegen ihren Willen sterilisiert.
Schon seit Mitte der 1930er Jahre planten Hitler und nationalsozialistische Ärzteführer mit der Tötung von Menschen, die wegen ihrer Behinderung oder Krankheit als „nutzlos“ galten, den nächsten, noch radikaleren Schritt in der nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik. Erst der Ausbruch des Krieges bot ihnen aber die Möglichkeit, die als „Gnadentod“ („Euthanasie“) verharmloste „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ ohne große Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit systematisch durchzuführen. Ziel war es, Kosten für die Versorgung „unnützer“ Menschen zu sparen sowie das freiwerdende Ärzte- und Pflegepersonal und einen Teil der Anstalten für militärische Zwecke zu nutzen.
Der von Hitler persönlich unterschriebene „Euthanasiebefehl“ zur Tötung von Behinderten und Kranken wurde Ende Oktober 1939 ausgegeben und auf den 1. September 1939, den Tag des Überfalls auf Polen, rückdatiert. Organisiert wurde der Massenmord an Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen von der „Kanzlei des Führers“. Sie gründete zur Tarnung des Unternehmens einen angeblich wissenschaftlichen Ausschuss zur Erfassung von „Erbkranken“. Er hatte seinen Sitz in der Berliner Tiergartenstraße 4, weshalb die Morde auch die Bezeichnung „Aktion T 4“ erhielten.
Unter Mitwirkung der Gesundheitsabteilungen in den Innenministerien der Länder veranlasste der Berliner Ärzteausschuss die Leiter der örtlichen Anstalten, einen Teil ihrer Heimbewohner in andere Anstalten – Tötungsanstalten wie Grafeneck – zu verlegen. Zur Begründung wurden nicht näher definierte, kriegsbedingte „planwirtschaftliche Maßnahmen“ genannt; ein Teil der Anstaltsleiter wusste allerdings vom wahren Grund der Verlegungen. Im Rahmen der Aktion wurden reichsweit mindestens 70.000 Menschen in getarnten Bussen in die „Euthanasie“-Tötungsanstalten deportiert und dort ermordet – ohne Wissen der Angehörigen, die später oft aus Scham teilweise über Generationen hinweg über die Angelegenheit schwiegen.
Die „Aktion T 4“, im August 1941 nach öffentlichen Protesten der Kirchen abgebrochen, umfasste nur einen Teil der „Euthanasie“-Maßnahmen. Letztere beinhalteten auch:
- die Tötung geistig oder körperlich behinderter Kinder, sogenannte „Kindereuthanasie“; 1939 begonnen und bis Kriegsende fortgesetzt
- „Wilde Euthanasie“ (auch „kalte“ oder „dezentrale Euthanasie“ genannt) durch Todesspritzen oder Nahrungsmittelentzug, nachdem die „Aktion T 4“ eingestellt war; 1941 bis Kriegsende
- die „Euthanasie“ im Osten: Ermordungen von Psychiatriepatienten in Polen und der UdSSR
Insgesamt fielen ca. 280.000 Kinder und Erwachsene der „Euthanasie“ zum Opfer. Die Geschichtswissenschaft geht aber von einer beträchtlichen Dunkelziffer aus.
Autor: Dr. Robert Neisen
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Videobotschaft von Irene Heinzelmann, Nichte von Berta Pahl, anlässlich der Stolpersteinverlegung 2021